Tag 12: Von Simmershausen nach Bamberg

Trotz anderslautenden Vorhersagen hält das Wetter. Zunächst wurschtle ich mich einige langgezogenen Hügel (indes mit mäßiger Steigung), und ziemlich ruhige Landstraßen entlang durch das grenznahe, “Fränkische” Thüringen. Plötzlich stoße ich auf einen Ort, dessen Geschichte ich noch von Anekdoten aus den Gesprächen mit den Simmershausenern vom Vortag im Hinterkopf hatte: Den heute stilliegenden ehemaligen Produktionsort des früher einmal weltberühmten Fridrichshaller Bittersalzes, gleichzeitig Abfüllort des Friedrichshaller Bitterwassers, das es heutzutage ebenfalls nicht mehr gibt.

Neoklassizistische Architektur, wie sie auch von König Ludwig dem Ersten (dessen Frau ja aus unmittelbarer Nachbarschaft stammte) hätte gebaut worden sein können, verrottet hier ungenutzt in der überregional unbekannten Pampas, im touristischen Nirgendwo. Traurig. Das Szenario wird umso trister und “perspektivloser” durch den Umstand, das manche der Anlagen heute als ein Heim für betreutes Wohnen genutzt werden. Im Vorbeifahren sehe ich einen alten Mann, der Zeitungen aus einer Altpapiertonne holt, um sie neben der Mülltonne zu lesen. Wie “in einem anderen Film”, das alles…

Interessant ist an den ehemals sicher sehr schönen und stolzen Bauten, daß sie vom Sockel aufwärts allmählich kaputtgehen – der Sandstein zersetzt sich, und wird tatsächlich wieder zu Sand! Das dürfte nach meinem Dafürhalten mit dem Produkt zu tun haben, mit dem hier über hundert Jahre lang hantiert worden war, und von dem sicherlich einiges auch auf den Boden getropft, oder über Versickerung aus undichten Leitungen in die Mauern aufgestiegen war: Das salzhaltige Wasser!

Neben einem der zahlreichen Funktionsbauten entdecke ich ein altes, geborstenes Holzfass, in dem ein abgestorbener Ast steckt. Sehr symbolträchtig.

Wenig später passiere ich die ehemalige Deutsch-Deutsche Grenze das zweite Mal auf meiner Radtour. Diesmal kein bombastisches, braunes Hinweisschild am Straßenrand wie zuletzt, sondern lediglich eine kleine, aber sehr informative Tafel, die anhand von Zeitungsausschnitten und Augenzeugenberichten die Ereignisse von Ende 1989 wiederaufleben lässt, und die mich vor Bewegtheit etwas weinen lässt.

Hier war kein großer Grenzübergang gewesen, der einfach nur geöffnet werden musste – stattdessen waren jahrtausendealte Wege, die der Todesstreifen einst jäh durchschnitten hatte, ganz von Neuem wiederzueröffnen.

Auf den Zeitungsausschnitten ist gut das Ringen der Menschen mit der Bürokratie Ost-, wie auch Westdeutschlands von damals nachzulesen:

Zunächst weigerte sich der zuständige ostdeutsche Grenzoberste, sein OK zur Grenzöffnung an dieser Stelle zu geben, obwohl andernorts die Grenzpassage längst möglich war. Später gab er an, er und seine Leute “wären nicht sicher gewesen, ob in dieser Gegend nicht noch Minen verstreut seien”. Als dann die Genehmigung vorlag, hatte der Osten hingegen keine Mittel für den Bau einer Straße rüber über die Grenze – und die Behörden im Westen weigerten sich, “im Ausland zu arbeiten” – unglaublich, diese Kleinkariertheit, aus heutiger Warte!

Eine private (West-) Firma sorgte schließlich in einer möglichst unauffällig durchgeführten “Guerilla-Aktion” für Abhilfe. Einfach großartig! Helden!

Übrigens zeigt das gelbe Kreuz oben in den Fotos den genauen Ort der Ländergrenze auf dem Asphalt zwischen Thüringen und Bayern an.

Nach der Grenze plötzlich eine fränkische Stadt – Seßlach – mit einem heute etwas bizarr anmutenden Brauch: Das Städtchen, das noch heute komplett von seinen mittelalterlichen Mauern umgeben ist, schließt immer am Wochenende seine schweren Stadttore. Dann kommt kein größeres Fahrzeug mehr raus oder rein in die Stadt.

Für mich friedliebenden Liegeradler, der ich offenbar keine ernstzunehmende Bedrohung des Seßlacher Wochenendfriedens darstelle, ist jedoch eine geradezu winzige Durchfahrt auf der Seite des großen Tores (nicht im Bild) offen.

Die Durchfahrt ist extrem niedrig, sodaß man sie wahrscheinlich im Mittelalter schnell mit Felsbrocken oder Ähnlichem hätte unpassierbar machen konnte.

In Seßlach ist gerade Kirwa, oder wie auch immer man das im Fränkisch-sprachigen Raum nennt. Ein kleines Karussell rotiert auf dem Marktplatz, und man kann sein Talent als Schütze an einem Tonröhrchen-Schießstand unter Beweis stellen.

Mich aber zieht es zu den Restaurants. Nach einem kurzen Abchecken der Wirtshäuser vor Ort entscheide ich mich für den Biergarten des `Roten Ochsen´. Eine weise Entscheidung, wie sich herausstellt, denn der Sauerbraten dort zählt zu den besten, die ich je gegessen habe – und das Bier wird selbst gebraut (Franken halt ;-)). Ich lasse mir daraus ein Radler machen.

Witziger Weise hat das Bier farblich einen leicht rötlichen Einschlag. Wie der Ochse.

Gestärkt (oder geschwächt, wie man’s nimmt) von dem tollen Essen ziehe ich weiter.

Etwas, das mir hier in Franken sehr stark in’s Auge springt ist ein augenscheinlich extremer katholisch-religiöser Einschlag, der ohne Weiteres alles übertrifft, was ich daran schon aus den oberbayrischen Gegenden kannte, die ja, was das betrifft, ebenfalls keine Leisetreter sind:

Überall hier trifft man auf Kreuze, von denen manche auch nicht so extrem alt sein können, da sie aus Beton gefertigt wurden. Anders als die oberbayerischen Wegkreuze aber, die man ab und an in der Landschaft findet sind diese Kreuze hier oft an die drei Meter hoch, und finden sich auch in Städten und ganz normalen Wohngebieten!

Vermutlich sind sie aber an traditionellen Wallfahrt- oder Prozessionswegen platziert. Einer der Orte, die ich durchquere hat sogar den Spleen, daß an gleich mehreren alten Häusern vor einem Fenster im ersten Stock eine große, reich verzierte Glasvitrine mit einer Marienstatue darin hängt.

Eine Ortsansässige bestätigt mir wenig später, daß die Franken sehr katholisch, und sehr religiös waren, – und sind!

Die Bestätigung dafür erhalte ich in Form eines Dorfkerns, in dem die alte Dorflinde, die Schwengelpumpe, die Säulen des Pumpenhäuschen und einiges mehr in der Machart des sogenannten “Urban Knittings” dreidimensional umhäkelt sind. Was das an Zeit gekostet haben mag! Ein örtlicher Kirchenkreis war das, und er versucht damit Spenden für die Innensanierung der uralten Dorfkirche aufzutreiben.

Die Strecken sind heute wieder sehr schön: Entweder ruhige Landstraßen mit gutem Belag, oder gleich bemerkenswert professionell ausgebaute Radwege, an denen einzig die korrekte und Orientierungsfehler nicht zulassende Beschilderung dann und wann zu wünschen übrig lässt. Dann (die Lautsprecheransage von meinem iPad zeigt das durch den Spruch “Die Tour wird angepasst” an) ist mein Ritual immer gleich:

Stehenbleiben, Rad abstellen, mein iPad von den Packtaschen nehmen, auf denen ich es mit der laufenden App komoot unter den Expandern festgeschnallt habe. Dann Kartenstudium. Der Luxus meines Reiserades ließe sich fast nur noch mit einem auch während der Fahrt ablesbaren iPad noch weiter steigern. Ich bin aber mit dem Ist-Zustand bereits sehr zufrieden.

Meine These ist ja, daß eine regionale Fahrradkultur (oder deren Fehlen) das Radwegenetz (oder dessen Abwesenheit) prägt. Die Franken fahren augenscheinlich sehr gerne Rad, denn die Radwege hier sind schlichtweg der Wahnsinn, und stellen alles in Schatten, was ich zwischen Hamburg und hier gesehen habe: Topp-Beläge, schnurgerade Strecken, teils entlang vorhandenen Schnellstraßen, sodaß man zügig auch weiter entfernte Ziele ohne unnötiges Gedöns erreichen kann.

Als ich zwischen zwei solchen Fern-Radrouten gerade eine Vorstadt Bambergs durchquere, sehe ich beim Einbiegen in eine Seitenstraße eine junge Frau, die sich um irgendwas kümmert, das sich am Boden befindet, ihr Freund steht dabei hinter ihr. Nachdem sie nicht gleich wieder aufsteht, um einen Gegenstand aufzuheben, kann es sich fast nur um ein Tier handeln, denke ich mir.

Interessiert bleibe ich stehen, und frage, was da los ist.

Stellt sich heraus, sie hat ein paar junge Vögelchen entdeckt. Diese sind wohl noch nicht zu so ganz 100% flügge, einer wurde augenscheinlich bereits vor einiger Zeit auf der Straße platt gefahren, die Tiere sehen unterschiedlich geschwächt aus – und von den Eltern fehlt jede Spur.

Wir beraten, was zu tun ist. Ich erinnere mich an ähnliche Fälle aus München, aber hier kenne ich die “Infrastruktur” für solche Angelegenheiten nicht. Erstmal die genaue Lage sondieren: Die junge Frau hat insgesamt drei Vögel gesehen, ich schlage vor, wir sammeln sie ein und legen sie an einen Platz, damit wir das alles besser im Griff haben. Ich selber finde auf der anderen Seite der Kreuzung noch zwei weitere kleine gelb-grüne Vogelbabies. Eins davon ist noch sehr vital. Er piepst panisch und versucht, davonzuflattern (mehr als bodennahes Fliegen geht noch nicht) doch es gelingt mir, auch ihn einzufangen.

Dann recherchiere ich auf die Schnelle, was es hier in der Gegend für in Frage kommende Dienste gibt. Tierheim ist da nicht unbedingt die erste Wahl – die kümmern sich mitunter nicht um Wildtiere, und hätten auch teils nicht das Personal und die Zeit, 24 Stunden am Tag Tierbabies zu betreuen und zu füttern.

Doch ich finde über Google unter dem Stichwort “Vogelmutter” schonmal einen Zeitungsartikel mit dem Namen einer Frau. Deren Namen weiter gegoogelt: -Angerufen. Geht niemand ran. Schließlich finde ich eine Wildtierhilfe in Bamberg, die sowas macht. Das nette Pärchen wird entsprechend gebrieft, die telefonieren mit der Wildtierhilfe, die Vögel landen in einer großen Papiertüte, und ab geht’s mit ihnen zur Rettung!

Mir hat indes einer der kleinen Piepmatze in meinen Fahrradhelm gekackt, in dem ich die fünf Tierchen vorübergehend eingesammelt hatte. Eine nahe Handpumpe (seit Thüringen sehe ich die hier fast überall) ist defekt, und so suche ich nach einer anderen Möglichkeit, meine Kopfbedeckung zu entkoten.

Fündig werde ich einige Kilometer weiter, an einer Industriehalle, neben der Leute an Biergartentischen sitzen. “Muss eine Betriebsfeier sein oder sowas”, denke ich bei mir. Doch weit gefehlt: Dieser eher technisch aussehende Bau ist eine weitere Kleinbrauerei mit angeschlossenem Restaurant – ein Mann, der sonst bei einer Firma für Brauereitechnologie arbeitet hat sich damit einen Lebenstraum erfüllt!

Wie cool ist es eigentlich, was ich zufällig alles für besondere Orte auf dieser Reise finde! Freundlicher Weise gibt man mir gleich Spülmittel für meinen Helm, und ich mache ihn auf der Toilette im Waschbecken damit wieder schön sauber.

Danach freilich möchte ich jetzt aber auch das Bier probieren – dazu gibt es geräucherte Wurst, Brot und Meerettich – alles hausgemacht, wie man mir versichert, und alles in der Tat von erlesener Qualität.

Schließlich darf ich mir das Herz der Anlage – die Brauerei samt Kühlräumen – ansehen.

Krasser könnte der Kontrast zum Jahrhunderte alten Brauhaus in Simmershausen, in dem ich nur einen Tag zuvor gestanden hatte kaum ausfallen: Hier ist alles so sauber und “technisch aussehend”, daß man in dem Raum vermutlich auch eine Gehirn-OP unter Reinraumbedingungen durchführen könnte. Die Kühlsilos (oder wie man das nennt) sind aus Hohlkammer-Edelstahl im Sandwichverfahren gebaut, und die gesamte Anlage ist computergesteuert – gerade läuft das vollautomatische Reinigungsprogramm.

Was momentan passiert, ist auf einem großen Monitor in der Mitte abzulesen. Und trotz all diesen Unterschieden sind sich die Braumeister so ähnlich, in ihrem hingebungsvollen Einsatz für ihre Passion!

Wieder einmal durch unvorhergesehene, aber alles andere als unwillkommene Vorkommnisse in meinen Tageskilometervorstellungen “zurückgeworfen”, erreiche ich in der Abenddämmerung den Stadtrand von Bamberg.

Zunächst durchquere ich eine ghettoähnliche Gegend, und denke mir “um Gottes Willen – ist Bamberg SO hässlich?!?”

Doch dann weichen die willkürlich verstreuten Industriebauten, Halb-Ruinen und Brachflächen endlich kleineren, interessanten Häuschen aus der ferneren Vergangenheit. Plötzlich stehe ich vor einer Informationstafel eines eigens zu dem Thema “Stadtgärtner Bambergs” gestalteten Museum (das indes leider für heute schon zu hat). Ich hatte das zuvor nicht gewusst, aber bis vor nicht allzu langer Zeit gab es relativ zentral in Bamberg gelegen viele kleinere/mittelgroße Gärtnereibetriebe, die für Bamberg eine beträchtliche Wirtschaftsmacht darstellten:

Durch die Tafel erfahre ich, daß insbesondere der Handel mit der Süßholzwurzel (wir kennen alle das berühmte Produkt Lakritze, das aus ihr gemacht wird [welches mir indes ÜBERHAUPT NICHT SCHMECKT ;-)]), sowie überregional und sogar in England für seine Hochwertigkeit bekanntes Saatgut Bamberg’s Gärtnern viel Wohlstand brachten.

Das ganze mich umgebende Viertel ist nach wie vor geprägt von dieser Zeit: Überall süße kleine Häuschen, liebevoll oft mit floralen Stuckmotiven verziert, dazwischen die Grünflächen, die freilich heute nicht mehr so stark bewirtschaftet werden. In den Fassaden dieser Häuser überdimensionale Toreinfahrten: Sie waren sicher für die Fuhrwerke, mittels derer die Gärtner ihre Produkte früher ausfuhren.

Übernachtung im nahen “Hotel National” aus der Zeit von Prinzregent Luitpold.