Tag 14: Von Nürnberg nach Kipfenberg
Das von mir eigentlich als “Ort der Erholung” gebuchte Motel One bietet mir diesmal eine gemischte Packung: Zwar sind Sauberkeit und ästhetischer Standard wie von Motel One gewohnt topp, doch um 08:30 Uhr weckt mich ein infernalischer Krach direkt vor meinem Erdgeschossfenster: Im Innenhof des Hotels wird gerade eine neue Holzterrasse angelegt – jetzt verdichtet irgendein Gärtner den Boden mit einem Rüttler. Ungelogen sind die Erschütterungen in meinem Bett spürbar! Auf der Habenseite ist somit ein Verschlafen erfolgreich verhindert. Und verschlafen hätte ich können – war ich doch bis fast 04:00 Uhr morgens damit beschäftigt, die Blogeinträge für die zurückliegenden zwei Tage zu verfassen. Es ist wirklich unfassbar, wie viel Zeit das Tippen, vor allem aber das Auslesen und Nachbearbeiten der verwendeten Fotos in Anspruch nimmt.
Von meinem Hotel am Rande von Nürnberg’s historischer Altstadt breche ich wenig später auf – zunächst in Richtung Zeppelinfeld. Diesen Nazi-Massenversammlungsort hatte ich nämlich bislang nur in Filmen und auf Fotos gesehen (vor allem Leni Riefenstahl – und der ikonische Clip, in dem nach dem Krieg die Amerikaner das riesige Hakenkreuz auf dem Dach in die Luft gesprengt haben). Das Reichsparteitagsgelände hatte ich zuvor bereits gesehen, doch heute bietet sich die Gelegenheit, auch durch den gigantischen Innenhof mit dem Fahrrad zu fahren. Als ich auf einer Informationstafel die Baupläne dieses unvollendet gebliebenen Großprojektes sehe, wird mir wieder einmal ein gravierender “Designfehler” des Naziimperiums sehr deutlich bewusst:
Da wurde ein monströses Hallengebäude hochgezogen, in das wenn ich mich recht erinnere über 100.000 Menschen hätten passen sollen, alle Ränge dieser Menschen auf einen winzigen Punkt in der Mitte ausgerichtet: Dort steht Hitler. Eine riesige Propagandamaschine also. Ein Bauwerk, das Jahrhunderte dort stehen würde. Doch was ist, wenn dem “Herz” (wenn dieser Begriff überhaupt in dem Kontext anwendbar sein sollte) dieser Maschine – Hitler – etwas passiert? Er alt wird, und es als charismatischer “Führer” nicht mehr bringt? Dann waren die unbeschreiblichen Mühen, dieses Bauwerk wie aus einer anderen Welt zu bauen komplett für die Katz’. Und daß es in jedem Fall so hätte kommen müssen ist auch klar. Es mag tausendjährige Reiche geben. Aber es gibt keine tausendjährigen Diktatoren.
Das alles hier hat etwas Bizarres. Am Rande des Innenhofes lagern unzählige der Quadratmeter-großen Granitplatten, mit denen auch die nahe Aufmarschstraße gepflastert ist (und die die Älteren unter uns auch noch vom Königsplatz in München kennen). Aus vergangenen Besuchen weiß ich, diese äußerst präzise gefertigten, eigentlich sehr “hochwertigen” Steine wurden von KZ-Sklaven gemacht, und viele, viele sind bei dieser Arbeit, die meines Erinnerns nach Teil des Konzepts “Vernichtung durch Arbeit” war, gestorben.
Später passiere ich die Aufmarschstraße – ebenfalls so ein hypnotisch wirkendes Gigantomanie-Ding – und gelange zum Zeppelinfeld. Ein Glück, daß ich mein Liegerad dafür habe, denn obwohl das hier alles tasächlich Teil einer einzigen Gesamtanlage ist, liegen die Entfernungen im Kilometerbereich, und ich hätte wenig Lust, für all das im Wesentlichen sinnentleerte Gedöns durch die relativ faden Landschaften zu tigern. Einzig “erfrischend” in alledem hier ist ein ebenfalls riesiger See, um den man irgendwie rum muß, um vom einen Ort zum Anderen zu kommen. Und auf diesem “Nazi-See” funkeln die Wellen genau so optimistisch und schön, wie sie es auf jedem anderen Gewässer auch täten.
Das Zeppelinfeld mit seinen Bauten versinkt, wie ich vor Ort gleich sehe, in einer beschleunigten Baufälligkeit: Schon vor Jahren wurden oben auf den Tribünen die Säulengänge abgebaut – wohl, weil ein Unterhalt “zu teuer” gekommen wäre. Dadurch, daß somit auch die Dachfunktion des Wasserableitens fehlt, wäscht das eindringende Wasser nun den Beton unter den Steintreppen aus. Zudem brechen überall Steinplatten. Netze zum Schutz vor herabfallenden Steinen und Holzbalken, mit denen man fehlende Felsplatten in ihrer Tragwirkung ersetzt sollen ein weiteres Zusammenfallen verhindern. Man spürt diese Doppelsinnigkeit, die an so vielen Orten des ehemaligen Nazi-Regimes zu finden ist: Einerseits sind das heute unerwünschte Plätze – materielle Hinterlassenschaften mit Entsorgungsqualitäten. Doch dann sind es auch Mahnmale, und deren wie auch immer gearteter Erhalt gehört zu den wenn auch oft als lästig empfundenen Pflichten des heutigen Staates.
Hinter dem Zeppelinfeld nehme ich mir die Zeit, endlich einmal wieder meine Fahrradkette mit Benzin zu reinigen, um sie danach neu mit Rohloff-Kettenöl zu schmieren. Die Ritzelrädchen sowie die Kettenumlenkrolle (Liegerad-Spezialbauteil) sprühe ich mit Ballistol ein.
Mann, das hat ‘ne Wirkung! Ich hatte ja die letzten Tage bereits den Verdacht gehegt, daß Staub, Schmutz und weggewaschenes Kettenfett die Reibung im Antrieb unnötig erhöht haben – aber daß es SO schlimm gewesen war, hatte ich mir echt nicht vorgestellt.
So geht es nun also wesentlich beschwingter weiter, gen Süden. Nürnbergs Radwegesituation bleibt im Stadtbereich absolut suboptimal: Blöde Pflasterung bildet regelmäßig den Untergrund, und üble Schlaglöcher und zu hohe Bordsteinkanten schlagen mir regelmäßig die Sitzplatte trotz Federung derb in den Rücken. Verlässt man wieder die Stadt, wird jedoch alles wieder gut – ja, es wird SEHR gut! Breite, und einzig und alleine für die Radwanderer angelegte Strecken aus feinkörnigem, und somit leichter zu befahrenden Asphalt ermöglichen ein zügiges Vorankommen. Eigentlich. Problem ist nur: Weil auf vielen Kilometern die “Landschaft” so ziemlich exakt gleich ausschaut (der für diese Gegend charakteristische Nadelbaumwald) kommt es einem so vor, als führe man im vom Hexenmeister verfluchten Zauberwald aus dem Buch Krabat: Ganz, als käme man auch nach “Stunden” der Fahrt stets zum selben Ausgangspunkt zurück!
Ebenfalls kaum der Erleichterung dient der Umstand, daß jetzt wieder die Steigungen anfangen. Hügel rauf, Hügel runter. Und das Ganze von vorne. Auf andere Radfahrer treffe ich kaum. Überhaupt, Thema ‘Radfahrer treffen’: Über Land sind dies deutschlandweit wenn, dann meist Rennradfahrer. Nachdem diese üblicherweise allein, fernab der Städte durch die Gegend zischen, möchte man meinen, daß die Begegnung mit einem Radfahrer-Kollegen ein begrüßenswertes Ereignis ist. Von meiner Amerikadurchquerung mit dem Motorrad her erinnere ich mich noch gut an den auch hierzulande praktizierten Brauch der Motorradfahrer, sich bei Begegnung mit einem Handzeichen zu begrüßen. Rennradfahrer aber kriegen das nicht hin. Selbst, wenn man laut und deutlich “Hallo”, “guten Morgen” oder sowas sagt, bleiben die oft stumm. Seltsam.
Zu meiner nicht eben knallermäßigen Stimmung heute (die sicher in erster Linie der nur viereinhalb Stunden kurzen Nacht geschuldet ist) trägt jetzt außerdem der Umstand bei, daß der Himmel zunächst einfach nur grau ist, und es dann aber auch noch zum Regnen anfängt. Nicht viel, zunächst. Aber viel genug, um für Pausen wenn, dann nur unter Bäumen anzuhalten – denn sonst regnet es auf die Rückenlehne, und ich bezahle beim Weiterfahren für die kurze Erholung mit einem nassen Hintern.
Ich hab’ keine Ahnung, wie ich die zweite Hälfte des Tages ‘rumbringe – es herrscht meist eher eine gewisse Tristesse. Architektonisch gibt die Landschaft jetzt weit weniger her als zuletzt in Thüringen: Fachwerkhäuser sind selten – und selbst wenn man mal durch einen historischen Ortskern fährt, dann sind die Fassaden selbst uralter Häuser meist mit perfekt rechtwinklig aufgebrachtem Putz “totsaniert”.
Ich passiere Greding, und sehe jetzt das so oft auf der nahen A9 schnell mit dem Auto durchfahrene trist-hässliche Tal einmal aus einer anderen Perspektive. Um die Stimmung zu heben, mache ich ein paar Fotos von einem schönen Sonnenblumenfeld am Rande der Straße (und bezahle für die Fotos mit dem besagten nassen Hintern).
Schon in der Abenddämmerung sehe ich plötzlich eine auffällige, seltsame Ansammlung von alten Türmen und Mauern. Ein Schild weist darauf hin: Dies hier ist eine Wehrkirche! Ich hatte von so etwas schon mal gehört, es aber bis jetzt noch nie selbst gesehen. Wehrkirchen dienten früher dem Schutz und der Zuflucht der Bevölkerung und ihrem wichtigsten Hab und Gut im Falle von plötzlich angreifenden, feindlichen Truppen. Ich nehme mir die Zeit, stelle mein Rad zum Schutz vor dem Regen unter einen der Torbögen und sehe mir die Anlage an. Die Türme stehen heute unglaublich schief da. Sie haben mehrere Plattformen, und in den Mauern befinden sich Schießscharten, um von ihnen aus den Feind zu beharken. Dazwischen überall die Grabsteine des Friedhofs.
Jetzt fällt mir das erste Mal auf meiner Reise auf, was manche ja bereits (und offenbar nicht ganz zu Unrecht) beklagt hatten: Manche West-Städtchen sehen heute verwahrloster aus, als diverse teils fast flächendeckend renovierten Orte auf ehemaligem DDR-Terrain! So verrotten hier beiderseits der alten Wehrkirche uralte Häuser, die mit eingeschlagenen Fensterscheiben vermutlich auf ihren gnädigen Einsturz, oder Abriss wegen nicht mehr möglicher Sanierung warten.
Als Nachtquartier soll es diesmal irgendwas in Kipfenberg sein. Dort gibt es, wie Google mir anzeigt nämlich ein Limesmuseum. Und der geografische Mittelpunkt Bayerns liegt ganz in der Nähe. Als es – ich fühle mich bereits recht “fertig” – noch 7-8 Kilometer sind (und zudem, wie könnte es anders sein – wieder bergauf geht) gibt der Regen endlich so richtig Gas: In schönen Schnüren zieht er auf mich hernieder! Die Goretex-Jacke streicht darüber die Segel: Kaltes, ekliges Wasser dringt erst durch meine linke, dann auch durch die rechte Tasche in mein Unterhemd ein. Schließlich sogar noch durch den mittigen Reißverschlus!!! Oh Mann, wie DAS nervt!
Doch jetzt trete ich in die Pedale, nehme es als sportliche Herausforderung. Ungefähr gleichzeitig damit, daß ich bis in die Socken hinein total durchweicht bin, beginnen die Muskeln so viel Wärme zu produzieren, daß mir (fast) alles egal ist. Ich erreiche das Hotel, finde ein überraschend riesiges Zimmer vor (eigentlich ist es eher eine Wohnung – auf zwei Etagen, drei (!) Räume plus Bad, vier Betten), und nehme erstmal eine schöne, warme Dusche, anschließend trockene Klamotten ran an den Körper -toll! Leider ist der Duschkopf total verkalkt – das Wasser kommt wie kleine Messerstrahlen aus den wenigen noch nicht zugekalkten Düsen.
Kurzerhand montiere ich den Duschkopf ab, und bitte, bevor ich zu Abend esse das verdutzte Hotelpersonal darum, ihn geschwind in Essigessenz zu baden. So braust der Kalk munter im Essigbad, während ich schmackhafte Penne all’arrabbiata mit Speck esse – dazu Pyraser Schwarzbier – feine Sache.
Den Abend ausklingen lasse ich mit einer Premiere: Ich benutze erstmalig in meinem Leben unterwegs in einer Drogerie erworbenes “Rei in der Tube”, dessen bekloppte Werbejingle mir noch aus Kindheitstagen im Ohr hängt, um meine eh schon pitschnasse Funktionskleidung damit zu waschen. Überraschend einfach auszuwaschen, das Zeug. Stinkt nicht unangenehm oder so – und fast wider Erwarten sind alle meine Sachen schon am nächsten Morgen wieder wunderbar trocken! Zwischen den Wasch- und Spülgängen gehe ich immer wieder mal schnell rüber in’s Wohn-/Schlafzimmer, um am Fernseher zu verfolgen, wie in der Fussball-WM die Deutsche Nationalmannschaft quasi im Minutentakt gegen die Brasilianer Tore erzielt.
Was für ein ungewöhnliches Spiel!