Tag 15: Von Kipfenberg nach Wolnzach

Diesmal kann ich recht gut ausschlafen. Das Hotelzimmer ist wirklich sehr schön in einem ländlichen Stil eingerichtet – und dank meiner Essigessenz-Intervention gestern genieße ich die morgentliche Dusche unter einem angenehm breiten, sanften Strahl wohltemperierten Wassers. Beim Frühstück unterhalte ich mich mit den Tischnachbarn über die zurückliegende Fahrt. Auch sie wollen demnächst eine lange Fahrradtour machen, mit ihren Kindern. So meine Strecken rekapitulierend, stelle ich fest, daß die Gegend, die mir am meisten gefallen hat jene im Bereich der Lüneburger Heide war: Die liebliche Landschaft, die schönen, reetgedeckten Bauernhäuser, die freundlichen und unkomplizierten Leute.

Meine Tischnachbarn erzählen mir von weiteren Routen, weiter oben am Meer entlang. Ich ziehe ernsthaft in Erwägung, dies für einen meiner nächsten Urlaube zum Ziel zu machen.

Hoch über Kipfenberg prangt eine gut erhaltene Burg. Sie ist größtenteils im Privatbesitz und für Besucher gesperrt, doch in einem Seitenflügel befindet sich ein öffentlich zugängliches Museum über den Limes, der genau hier die Landschaft quert – sowie über die sehr zahlreichen archäologischen Funde, die hier in der Umgebung im Laufe der Zeit gemacht wurden. Unter Anderem ist dort die Grablegungssituation des sogenannten “Ersten Bayern” originalgetreu nachgebildet. Der relativ junge bajuwarische Krieger, dessen sterbliche Überreste hier ganz in der Nähe per Zufall gefunden wurden, wurde im 5. Jahrhundert mit reichen Grabbeigaben beigesetzt – unter anderem einem langen Schwert, wie es zu seiner Zeit in Mode war, und einem breiten, mit Beschlägen verzierten Gürtel.

Um zu diesem Museum hochzukommen, gilt es aber erstmal diesen Berg mit dem Radl hochzustrampeln. Mit ein paar Zwischenstopps komme ich nach nicht allzu langer Fahrt oben an. Zunächst statte ich aber dem nur vierhundert Meter entfernten geografischen Mittelpunkt Bayerns einen Besuch ab. Was für ein witziger Zufall, daß der erste uns bekannte Bajuware so nah am Mittelpunkt des heutigen Bayerns entdeckt wurde!

Dann das Museum. Es ist eine Außenstelle der Archäologischen Staatssammlung München. Im obersten Stockwerk befindet sich die kurios-“dilettantisch” zusammengetragene Museumssammlung eines Oberlehrers, der früher hier in der Gegend seine Wirkungsstätte hatte. Von Munition aus dem Ersten Weltkrieg über zerzauste, mit Nadeln aufgespießte Schmetterlinge, einen hölzernen Klapp-Rollstuhl, Volksempfänger und Tretnähmaschinen findet sich hier so Einiges, was vergangenen Zeiten entsprungen ist, didaktisch oder thematisch sonst aber kaum nachvollziehbar zusammengehört.

Anders der Rest der Ausstellung, die von den Profis des Münchner Mutterhauses geplant wurde. Besonders beeindrucken mich Urnen einer mir bis dato nicht bekannten frühzeitlichen Kultur, die in der Mitte der Urne gerne sogenannte Facettierungen anbrachte, d.h. die sonst runde Urne hat dort flache Flächen, wie bei einer Schraubenmutter. Diese Grundidee wurde bei einigen der aufgefunden Stücke nochmal variiert, indem diese Facetten in sich verwunden sind. Dieses Design sieht trotz des hohen Alters geradezu Science-Fiction-mäßig aus! Weiters schön: Die neu angefertigte Nachbildung eines zusammenfaltbaren Art Rund-Tischchens, mit dem im Museum eine Tempelsituation der Römer nachgestellt wird. So etwas hätte ich auch gern bei mir zu Hause, denke ich. Muß aber, da Handarbeit, sicher einige Tausend Euro kosten.

Am Ausgang kaufe ich mir dann noch etwas ganz Besonderes: Das Material, das man zum Feuerschlagen benötigt. Es stehen die von einem Schmied nach historischen Vorbildern gefertigten Stahlwerkzeuge aus unterschiedlichen Epochen zur Auswahl. Ich entscheide mich für die sozusagen “modernste” Version, wie sie ungefähr ab dem Jahr 1000 üblich war. Anders als bei seinen Vorgängern hat hier der Stahl einen Schutz für die Finger, damit man sich beim Funkenschlagen am Feuerstein nicht die Hand verletzt. Fortschritt! 😉 Ein Feuerstein komplettiert meinen Bedarf. Und obendrein erläutert mir noch die Museumsleiterin, wo in der Natur ich die restlichen, notwendigen Materialien zum Feuerstarten herbekomme (Rohrkolbensamen und Zunderschwamm), und wie ich diese Materialien handhaben und verarbeiten muß, um ein Feuer herzubekommen. Ich fühle mich wie am Anfang einer unerhörten Pioniertat. Großartig!

Weiter geht es, wieder am geographischen Mittelpunkt Bayerns vorbei in Richtung Ingolstadt. Die Ortschaften sind jetzt oft fade, und irgenwie trist. Langweiliges Vorstadt-Spießertum. Nur manchmal durchbricht ein besonders schönes Wohnhaus die Norm. Doch vermutlich wird es kein Ortsansässiger sein, der sich hier verwirklicht hat, sondern ein wohlhabender Städter, der sich hier in der Stille und Natur sozusagen ein Refugium vor dem Stress seiner Hauptwirkungsstätte geschaffen hat. Guter Geschmack ist hier definitiv Importware!

Unterwegs passiere ich einen Metzger, zu dem ich nach kurzer Erwägenspause wieder zurückkehre um mir eine Leberkassemmel zu kaufen. Jene schmeckt vorzüglich. Doch mein Hauptaugenmerk gilt einer Kuriosität an der Außenfassade: Dort hat der Metzger einen 24-Stunden Wurstautomaten mit integrierter Kühlung angebracht! Sauwitzig, und clever.

Die folgenden Kilometer bestätigen meine These von den unterschiedlich dimensionierten Kruzifixen in den verschiedenen Teilen Bayerns: Während diese, wie in einem vorangegangenen Post beschrieben in der Gegend um Bamberg riesengroß, mächtig und schwer ausfallen, komme ich jetzt allmählich in eine Gegend, in der die Kruzifixe meistenteils “klein” sind. An einem Feldweg finde ich eines, bei dem der Jesus von Kopf bis Fuß kaum dreißig Zentimeter misst! Bamberger würden so ein “winziges” Kreuz wohl kaum wahrnehmen. Unwillkürlich muß ich an den Begriff des “Jeserl’s” aus einem Polt-Sketch denken.

Ingolstadt beeindruckt einmal wieder mit den Gestank-Schwaden aus seiner Petrochemischen Industrie (seine Altstadt, und natürlich das Audi-Werk sind tatsächlich sehenswert – doch heute möchte ich nur durchfahren). Dieser Gestank muß doch je nach Wind auch in alle möglichen Wohngebiete wehen, denke ich mir. Ob dann die Anwohner klagen? Und wenn sie es tun – was passiert dann?

Heute hat es übrigens auch wieder fast den ganzen Tag über geregnet – aber diesmal nur noch leicht. Ich bin begeistert von dem Material meiner Funktionskleidung: Sobald der Regen aufhört, ist meine Laufhose binnen weniger Minuten absolut trocken – so gut verdunstet sie das Wasser! Für das Goretexjacken-/Liegeraddilemma habe ich jetzt ebenfalls eine Lösung gefunden: Ich schließe den Reißverschluss meine Jacke einfach im ausgezogenen Zustand, und streife sie mir dann “verkehrtherum” (also mit der Rückenseite vorne) über, wie einen Pullover. So kann beim Fahren im Liegen weder Wasser durch die Seitentaschen, noch durch den Reißverschluss reinlaufen! Funktioniert topp. Auch, wenn die Leute vermutlich denken ich sei bekloppt, wenn sie mich so damit herumlaufen sehen. 😉

Bis ganz nach München schaffe ich es heute noch nicht. Ich übernachte in Wolnzach, wo ich mir morgen eventuell noch das Hopfenmuseum anschauen möchte. Leider gehe ich diesmal bei der Buchung aus der Ferne einem “Internet-Blender” auf den Leim. Das Hotel ist mit knapp unter 60.- Euro auffallend “teuer” für seine Lage, sieht aber auf den Fotos ansprechend aus, weshalb ich das mal durchgehen lasse –  schwerer Fehler! Beim Eintreffen vor Ort geht das Elend los: Statt wie im Netz suggeriert ein `Haus mit Historie´ zu sein, strahlt es den muffigen “Charm” der 50er bis 60er-Jahre aus. Auch mein Zimmer riecht so, als sei es seit dieser Zeit nicht mehr gelüftet worden. Als ich deshalb das Fenster öffne, bläst mir ein Strahl nach schon viel zu lange nicht mehr gewechseltem Fritteusenfett stinkender Luft aus der Abluftanlage der Hotelküche direkt ins Gesicht!

Im Restaurant nun kann mir die Bedienung nichts zur Herkunft des von ihrem eigenen Haus angebotenen, speziellen Weißbiers sagen – und das im Zentrum des Hopfenbaus! Engagement und Begeisterung für den eigenen Beruf also ungefähr = Null.

Gut, mein Zimmer hat wenigstens eine Badewanne. Die lasse ich mir also gleich mal ein, und schon kurz nach dem Bad sinke ich in einen erschöpften Schlaf. Als ich wenig später disharmonisch aufwache, draußen ein lautes Gerumpel und Getöse: Die aus dem Zimmer über mir kommen augenscheinlich gerade besoffen vom Public Viewing des heutigen WM-Spiels zurück. Ich stelle fest: Die Wände sind “aus Papier”. Das Gequietschel der Matratze oben klingt in meinem Zimmer so laut, als würde es extra per Megaphon zu mir herunterübertragen! Und als sich endlich scheinbar alles beruhigt hat, stößt noch irgendwer einen schweren Gegenstand um. KA-TONK! Rumpelrumpelrumpel…

Der Blick auf die Uhr an der Wand sagt: 00:04. Zehn Minuten später zeigt er aber immer noch 00:04 an. In Wahrheit ist es irgendwo nach 01:00 – die Uhr ist stehengeblieben. Passt doch: Hier in diesem Hotel ist es nicht etwa “fünf vor Zwölf”, es ist hier bereits vier NACH Zwölf, um mal Einiges in Ordnung zu bringen!

Na, wenigstens wird mir morgen, auf der letzten Etappe, ein frühes Aufbrechen nicht sonders schwer fallen!